Gewalt in der Pflege
Der Begriff Gewalt in der Pflege oder Gewalt in Pflegebeziehungen wird überwiegend benutzt, wenn Pflegende (egal ob pflegende Angehörige oder professionell Pflegende) mit körperlicher Gewaltanwendung oder massivem Zwang in einer Pflegesituation etwas gegen den Willen der betroffenen Person durchsetzen (wollen). Dies sind immer kriminelle Handlungen.
Gewalt in Pflegebeziehungen wird seit einigen Jahren als ein Ausbildungsthema in der Pflege angesprochen. Bis 1995 wurde Gewaltausübung durch professionell Pflegende allerdings eher als ein Tabuthema in Ausbildung und Fachöffentlichkeit umgangen.
Es ist durchaus möglich, mit einer Sensibilisierung Pflegender bereit auf erste Anzeichen von gewalttätigem Fehlverhalten für die Zukunft präventiv zu wirken. Es muss nicht erst zu einer Kette von Tötungsdelikten durch eine Einzelne (m/w) kommen, bis Kolleg(inn)en und Vorgesetzte aufmerksam werden. Seit 1995 haben mehrere Lehrbücher das Thema aufgegriffen. Es ist sinnvoll, deutlich zwischen Aggressivität und Gewaltausübung zu unterscheiden. Ebenso werden in der Pflege in bestimmten Situationen legal Zwangsmaßnahmen (Freiheitseinschränkende M.) durchgeführt, die hier nicht Gegenstand des Artikels sind. Auch Pflegende ihrerseits werden relativ oft Opfer von gewalttätigen Patienten/Klienten. Auch dagegen sind präventive Schritte sinnvoll und möglich.
Missverständliche Benutzung des Ausdrucks Gewalt
Sehr oft wird auch dann von Gewalt in der Pflege gesprochen, wenn eigentlich von anderen Formen von konflikthafter Beziehung zwischen den Beteiligten die Rede ist. Dabei wäre es zur Klarheit sinnvoll, genau zwischen Gewaltanwendung und problemhaftem Handeln (z.B. übe Beleidigungen, Vernachlässigung) zu unterscheiden, um nicht Beteiligte fälschlich als Gewalttäter zu kriminalisieren und das Berufsfeld Pflege generell zu diskriminieren.
Theorien der Sozialwissenschaften für das "Warum ? "
Für das Verständnis, wie es zu den grässlichen Handlungen kommen konnte, werden meist Fragen nach der Motivation, den Motiven der TäterInnen gestellt. Die Antworten sind meist ausgedachte, theoretische Antworten, die nicht auf der genauen Untersuchung der TätEr basieren. Dazu tragen die verschiedenen Theorien der Sozialwissenschaften über die Entstehung der Aggression und der Gewalt bei, die in den folgenden Absätzen knapp dargestellt werden.
Überlastungsmodell
Das Überlastungsmodell interpretiert das Fehlverhalten als Reaktion einzelner Personen auf die Pflegesituation insgesamt. Dabei treffen eigene Belastungsgrenzen psychischer oder körperlicher Art mit der Anforderung des Heims zusammen, abhängige Personen individuell mit professionellem Wissen und freundlich zu versorgen. Das soll unabhängig von der Vielzahl zu versorgender Personen geschehen.
- Belastungsgrenzen körperlicher Art könnten z. B. Schlafentzug, körperliche Erschöpfung aufgrund lang anhaltender Überanstrengung (Stress) sein
- Von Belastungsgrenzen psychischer Art wird gesprochen bei der Leidensfähigkeit im ständigen Umgang mit selbst unter schwersten Krankheitszuständen leidenden Personen – Empathie, Mitgefühl oder Mitleid. Die Distanzierung wird auch als Reaktion auf den Verlust von Berufsidealen/Desillusionierung, Erregbarkeit/Ärger und Gereiztheit beschrieben.
Die gepflegte Person wird von der Pflegeperson quasi als Ursache dieser Symptome betrachtet und im äußersten Fall Opfer von Aggressionen.
Sucht
Misshandlungen als eine direkte Folge oder als Abreaktion von Überlastung wie auch psychosomatische Erkrankungen oder Alkohol- und Medikamentenmissbrauch. Dabei ist auch zu bedenken, dass durch die weit verbreitete kleinen Betriebsgrössen in der Altenhilfe die Verbreitung gesundheitlicher Vorsorge-programme geringer ist als in großen Institutionen, in denen sich der Einsatz von Betriebsarzt oder Sozialarbeiterin mit dem Schwerpunkt Suchtprophylaxe für das Unternehmen in geringeren Personalausfallzeiten direkt lohnt. Dies gilt, obwohl z.B. die erhöhte Suchtgefährdung in den Gesundheitsberufen allgemein unbestritten ist.
Lebensgeschichte des Täters
Entstehung von Aggressivität oder Gewalthandlungen kann als Folge aus der Lebensgeschichte einzelner Täter(innen) verstanden werden. Eigenes Erleiden von Beschimpfung oder körperlicher Misshandlung kann zur Nachahmung eines solchen Dominanzverhalten führen. Vor dem Hintergrund früherer Autoritätskonflikten kann das durchaus plausibel sein.
Falsches berufliches Rollenverständnis
Falsches berufliches Rollenverständnis kann auch als Auslöser gelten, wenn die Einstellungen zum Pflegeberuf oder gegenüber der pflegebedürftigen Person von einem falschen Mutter-Kind-Verhältnis geprägt wurde. Auch ein Verständnis der Krankheit als "Folge individueller Schuld" kann psychologisch verheerende Auswirkungen hervorrufen. Das Opfer trägt in dieser Vorstellung dann Schuld an seiner Bestrafung durch die Pflegenden.
Wenn diese Haltung von mehreren Beschäftigten oder Vorgesetzten eingenommen wird, spricht Görgen gar von einer Art krimineller Subkultur in einer Institution (Subkultur-These). Dort existiere ein stillschweigendes Übereinkommen, dass die Gewaltanwendung manchmal unumgänglich ist, und die Überzeugung, dass die Bewohner kontrolliert und wieder erzogen werden müssen. Hinweise auf Misshandlungen werden von dieser Gruppe geleugnet oder umgedeutet.
Kontroll-Modell
Ein mehr institutionell geprägter Erklärungsansatz ist die Frage nach Aufsicht innerhalb einer Hierarchie. Fehlt über lange Phasen eine Überwachung durch Vorgesetzte lässt sich im Kontroll-Modell davon sprechen, dass die Misshandlung alter Menschen auf mangelnde formelle und informelle Kontrolle des Lebens und Arbeitens innerhalb des Heim oder auf Defizite der behördlichen Heimaufsicht (zu geringe Kontrolldichte, Vorankündigung der Heimnachschauen) zurückgeführt werden. Dies setzt allerdings ein Menschenbild voraus, das dem einzelnen Mitarbeiter kaum Handlungsverantwortung zuordnet.
Macht-Modell
Als Macht-Modell wird eine Misshandlung alter Menschen verstanden, bei der Machtausübung oder Machtmissbrauch in einer Pflegebeziehung im Vordergrund stehen. Sadismus wird dabei als ein Gefühl erklärt, das nicht plötzlich auftaucht, sondern langsam in einem Lebenslauf entsteht. Dies kann gerade aus einer lebenslangen Beziehungsdynamik zwischen Eltern und Kind erwachsen sein und im extremen Fall einer Rollen vom Opfer sogar stillschweigend ertragen werden, da nun quasi die gleiche Wertvorstellung auf einen selbst zutrifft. War manh früher unumschränkter Herr im Haus, kann man jetzt mit dem Verlust eigener Fähigkeiten auch den Verlust über den eigenen Tagesablauf als zwangsläufig nachvollziehen.
Grundgedanke des Strafrechts
Auch der Grundgedanke des Strafrechts kann zutreffen: Ein Täter entschließt sich aus klarem Motiv zu einer Handlung, die für ihn einen direkten Nutzen hat, auch wenn dies dem geltenden Recht widerspricht. Eigentumsdelikte können so erklärt und verstanden werden. Aber wie sieht es in einer Tochter-Mutter-Beziehung mit all ihren Facetten aus? Der Nutzen liegt dann möglicherweise tief verborgen in einem oder mehreren Motiven, z.B. Rache für Demütigung oder Machtdemonstration. Juristisch ist das vielleicht als niederer Beweggrund einzuordnen und nicht zu entschuldigen, aber für das Verständnis, wie es dazu kam, hilfreich.
Vermuteter Auftrag
Der Autor Beine weist darauf hin, dass Täter zum Teil das ausführen, was in ihrer Umgebung gedacht wird. Sie handeln also quasi im stillschweigenden Auftrag eines Teils der Gesellschaft. Vielleicht/wahrscheinlich nur im vermuteten Auftrag. In der Pflege ist es wichtig, solche Gedankengänge möglichst frühzeitig zu erkennen und daraus abgeleiteten Fehlhandlungen vorzubeugen, um damit die BewohnerInnen der Pflegeheime (etc.) besser zu schützen.
Zusammenfassung zu möglichen Ursachen
Im Einzelfall werden vermutlich mehrere dieser Ansätze gleichzeitig als Erklärung der Motivation des/der TäterIn eine Rolle spielen. Vom Ergebnis her kommt es auch nicht auf eine exakte Zuordnung zu den einzelnen Theorieaspekten an. Dagegen kann die Überprüfung dieser Erklärungsmodelle bei der Vorsorge gegen Fehlverhalten einzelner oder von Mitarbeiter-Gruppen auf bisherige Lücken oder Fehler bei der Führung der Mitarbeiter(innen) hinweisen.
Bei den Pflegekräften macht es auch einen Unterschied, ob sie in einer zufriedenstellenden Familiensituation leben oder nicht. Zugleich wird die Familie durch den Beruf ständig belastet. Es ist sicher ebenfalls wichtig, dass man als Pflegekraft von der Heimleitung Anerkennung erfährt. Wer sich nur als lästige Hilfskraft erfahren kann, für die viel zu viel Geld ausgegeben werden muss, kann keine menschlichen Werte schöpfen.